Mit steigendem Alter wächst nicht nur unser Erfahrungsschatz, auch unsere Art zu lieben verändert sich. Wir wollten genau wissen wie. Deshalb haben wir Psychotherapeuth Reto Mischol gebeten unsere Fragen im Interview zu beantworten.
Fällt es im Alter schwerer sich an einen Menschen zu binden?
Bindungsfähigkeit im psychologischen Sinne bildet sich bereits in den ersten Lebensjahren und stellt eine konstante Kompetenz dar soziale Kontakte anzubahnen und zu pflegen. Im Alter stellen Beziehungen ganz andere Anforderungen dar als in früheren Lebensabschnitten. Die Arterhaltung ist keine Aufgabe mehr, Erotik und Sexualität sind bedeutsam, sie stehen jedoch nicht mehr derart im Vordergrund und sind nicht so stark hormonell bestimmt. Vielmehr besteht ein Bedürfnis nach Sicherheit, Nähe und Geborgenheit und nach Zärtlichkeit. Einsamkeit soll und darf mit einer Partnerschaft begegnet werden. Die Beziehungsaufnahme an sich ist nicht schwieriger als in anderen Lebensphasen, die Gelegenheiten die sich dazu anbieten sind jedoch völlig andere. Für den mittleren Lebensabschnitt bieten sich unzählige Angebote für die Anbahnung von Liebesbeziehungen, für Menschen im fortgeschrittenen Alter sind solche kaum vorgesehen. Dies kann die Suche nach, jedoch nicht die Bindung an jemanden, deutlich schwieriger machen.
Welche Ansprüche haben Ihrer Erfahrung nach ältere Menschen an eine Partnerschaft?
Kontinuierliche Partnerschaften, welche bereits durch die Zeit gefestigt sind stellen im besten Falle ein solides Fundament dar auch den Lebensabend in einer befriedigenden Zweisamkeit zu verbringen. Ein gemeinsames Herantreten an den Abschied von dieser Welt kann möglich werden – ruhend auf der gemeinsamen Geschichte.
Neue Beziehungsaufnahmen im fortgeschrittenen Alter bedeuten Anregung und Auseinandersetzung mit einem neuen Menschen. Das hält ‚jung‘ und macht Spaß.
Inwiefern unterscheiden sich ihre Ansprüche von denen jüngerer Menschen?
Das Bedürfnis nach Gesellschaft, nach Nähe und nach Austausch steht im Vordergrund. Erotik, Sexualität und Abenteuerlust treten im Alter in den Hintergrund. Es geht um Sicherheit und allenfalls auch um den Austausch über Erlebtes, Verpasstes und auch um Ängste in den Bereichen Gesundheit, Krankheit und Tod. Die Freundschaftsgruppe spielt oft eine untergeordnete Rolle, die Zweisamkeit ist gesucht. Bei Bedarf auch die gegenseitige Unterstützung in der Alltagsbewältigung, wenn gesundheitliche Einschränkungen bestehen.
Ältere Menschen werden oft als einheitliche Gruppe behandelt. Ab wann gehört man zu dieser Gruppe und gibt es in ihr klar unterscheidbare, weitere Altersabstufungen oder ähneln sich die Bedürfnisse ab einem bestimmten Alter sehr stark?
‚Man ist so alt wie man sich fühlt‘, diese Aussage trifft wohl nicht immer zu. Körperlich-geistige Wellness ist auf jeden Fall zentral, wenn es um das Gefühl geht älter zu werden oder alt zu sein. Gleichzeitig ist die individuelle Spannbreite riesig und hängt nicht zuletzt auch mit wirtschaftlich-existentieller Sicherheit zusammen.
Ein bedeutsamer Aspekt stellt dabei die Gewissheit dar noch gebraucht zu werden und für die Gesellschaft und vor allem seine Nächsten noch nützlich zu sein. Nichts beeinträchtigt die psychische Verfassung mehr als ein diffuses Gefühl von Wertlosigkeit seiner selbst oder sogar eine Lebenssituation, in der man sich als eine Belastung für die Umwelt erlebt.
Klassische Phasenmodelle nennen nach der Erwerbsphase den Übergang in das Rentenalter, die Übernahme von grosselterlichen Aufgaben, den Rückzug in sein trautes Heim oder den Wechsel in eine Alterseinrichtung und die folgende Phase der Vorbereitung auf das Ableben und den Abschied von seinen Liebsten. Alles in allem Entwicklungsaufgaben mit unterschiedlichen Herausforderungen.
Kommen Beziehungsprobleme bei älteren Menschen häufiger vor als bei jüngeren?
Ältere Menschen verfügen über vielfältige Erfahrungen, welche in einer Partnerschaft zur Stabilisierung sehr hilfreich sein können. Vieles kann mit sich selbst ausgetragen werden und muss nicht zwingend auf der Bühne der Beziehung ausgehandelt werden. Dies alles macht weniger konfliktanfällig. Beziehungen werden mit dem fortschreitenden Alter auch bewusster erlebt. Sie werden nicht einfach als selbstverständlich empfunden und als solche auch geschätzt. Gleichzeitig können sich in die Paarkommunikation über die Jahrzehnte auch Muster einschleichen, welche dysfunktionalen Charakter haben und zu gegenseitigem Rückzug und zu Verbitterung führen können. Dann beginnt ein stiller und einsamer Kampf in der Partnerschaft. Dieser ist jedoch in allen anderen Lebensabschnitten in ähnlicher Form auch möglich, es bieten sich aber meist mehr Ausstiegsmöglichkeiten.
Welches sind die häufigsten Probleme zwischen älteren Menschen?
Älter werden ist für viele Menschen eine große und mitunter auch mit Scham besetzte Aufgabe. Einschränkungen in seiner körperlichen und geistigen Beweglichkeit zu erleben und akzeptieren zu müssen ist für den Betroffenen sowie auch für seinen Partner neu und oft auch ärgerlich bis beängstigend. Alte Konflikt- und Rollenmuster können sich auch auf diese Veränderungen übertragen. Es nervt und ärgert, wenn das Gedächtnis nicht mehr so flott funktioniert oder die Suche nach Wörtern die Sprache langsam und holprig werden lässt. Der Aktionsradius für Unternehmungen wird kleiner und die täglichen Aufgaben sind zunehmend beschwerlicher. Plötzlich ist man auf Hilfe, meist fremde, angewiesen. Dies alles kann den Selbstwert empfindlich berühren. In Paarbeziehungen kann sich aus all diesen Aspekten auch eine chronifizierte Streitkultur entwickeln, die in ihrer Härte unerbittlich Tag für Tag ausgetragen wird.
Gibt es einen Unterschied zwischen den Beziehungsproblemen jüngerer und älterer Menschen?
Die Verbindlichkeit nimmt in Beziehungen mit der Zeit und fortschreitendem Alter zu, die gegenseitig wahrzunehmende Verantwortung auch. Alternativen gibt es wenige bis gar keine mehr. Das Ausweichen auf Freunde und Bekannte ist auch in seinem Angebot eingeschränkt. Daraus entsteht eine Dimension des sich gegenseitig ausgeliefert Seins. Jüngere Menschen können mit mehr Flexibilität und Beweglichkeit Auswege suchen.
Gleichzeitig ist die Fähigkeit mit mehr Akzeptanz auch schwierige Lebensereignisse oder –phasen anzunehmen grösser. Dies stärkt das Bekenntnis zueinander und die Bereitschaft die Beziehung in schwierigen Zeiten weiterleben zu lassen wird grösser.
Unsere Umfrage zeigt: Viele ältere Menschen finden ihr Sex sei im Alter besser geworden. Dabei verneinen sie, Sexpraktiken oder Sexspielzeuge zu nutzen. Gibt es neben der langjährigen Sex-Erfahrung andere Einflüsse die Sex im Alter befriedigender machen?
Sex im Alter ist mehr und mehr ein ‚Nähe und Intimität Genießen‘, der eigentliche sexuelle Akt der Kopulation tritt in seiner Bedeutung in den Hintergrund. Die Partner müssen keinen Klischees mehr gerecht werden, was die gegenseitige Begegnung vielleicht variantenärmer, jedoch auch vertrauter und sicherer macht. Das Abenteuer und die stürmisch-wilde Vereinigung weicht einem Akt des sich gehen Lassens und des Annehmens was möglich ist. Im Idealfall geprägt von einer großen gegenseitigen Dankbarkeit.
Ferner zeigt unsere Umfrage: Viele Singles höheren Alters lehnen, trotz des Wunschs nach Liebe, die Ehe ab. Wie erklären Sie sich das?
Dieser formelle Akt verliert im Alter einfach an Bedeutung oder soll nicht in Konkurrenz zu einer früheren Beziehung, vielleicht der fast lebenslangen Ehe, stehen. Wenn man die Ehe als einen Ort betrachtet, der nicht nur der Zweisamkeit gewidmet ist, sondern auch zum Ziel hat Kindern einen Platz auf dieser Welt zu bieten, so ist diese Funktion im höheren Alter sicher obsolet. Die Ehe ist eine Metapher für Zukunftsplanung und Arterhaltung, beides Aspekte, die nicht mehr relevant sind. Hingegen können juristische Aspekte aus guten Gründen sowohl für als auch gegen eine Eheschließung im Alter sprechen.
Welche Tipps haben Sie für ältere Menschen, die sich nach dem Scheitern einer langwährenden Beziehung wieder allein zurecht finden müssen?
Die neue Beziehung steht nicht mehr alleinig mit seiner Faszination in der Welt und dient nur dem gemeinsamen Wachsen. Jeder bringt seine eigene, ganz besondere Geschichte mit sich, die ihn selbst definiert und auch ein wichtiger und befruchtender Teil für die neue Beziehung werden kann. Es gehen zwei Menschen aufeinander zu, die bereits durch das Leben und die Menschen die darin vorkommen geprägt sind, das ist wunderbar und gleichzeitig eine Herausforderung. Partner sollten diese Welt des anderen als einen wichtigen Teil annehmen und damit in Austausch treten. Diese Welt braucht selbstverständlich auch seine Zeitfenster. Es gibt Menschen denen begegnet werden will, auch alleine. Dies soll vom Partner nicht als Ausgrenzung verstanden werden oder sogar eine Kränkung auslösen. Hier kann gezielte fachliche Unterstützung in Form von einer Paartherapie sehr hilfreich sein.
Wenn diese unterschiedlichen Welten neugierig und offen gemeinsam erkundet werden können, so kann vielleicht etwas noch Wertvolleres entstehen – lassen Sie sich vertrauensvoll auf dieses schöne Abenteuer ein.
Welchen Einfluss hat die Familie auf die Partnerwahl im Alter?
Die Familie ‚lauert‘ im Hintergrund mit ihrer Liebe und ihren Sorgen um das Wohl ihrer Eltern und Großeltern. Meist wünschen sich Angehörige, dass nach schweren Verlusten wieder Beziehungen aufgenommen werden oder sind mindestens offen dafür. Selten kommt es dazu, dass ein solcher Schritt als Verrat am früheren Partner erlebt wird. Die Familie ist relevant, sollte deshalb auch berücksichtigt werden aber keinesfalls wegentscheidend sein. Menschen entscheiden selbst wen sie wählen und lieben.
Was würden Sie älteren Menschen raten, die ihre „große Liebe“ verloren haben und glauben, damit hätte sich die Liebe für Sie erledigt?
Suchen sie nicht nach der alten großen Liebe. Tragen sie diese aber sorgsam mit sich in die Welt hinaus und gehen sie damit auf die Suche nach etwas Neuem. Seien Sie offen neue Facetten zu entdecken, lassen Sie zu, dass sie überrascht werden von der Mannigfaltigkeit des Phänomens Partnerschaft – mit oder ohne dem unglaublich schönen Schmetterlingsgefühl im Bauch. Keine Beziehung gleicht sich, weil kein Mensch wie er andere ist. Vertrauen Sie auf diese Einzigartigkeit auch in neuen Begegnungen.
Abschließend ein Blick in die Zukunft: Welche Herausforderungen an die Liebesfähigkeit wird der Trend zu Unverbindlichkeit und Bequemlichkeit an kommende Generationen stellen? Wie sieht die Liebe der Zukunft aus?
Die Liebe wird auch in der Zukunft das Wichtigste, Schönste und Mächtigste sein was das Universum bewegt. Deshalb glaube ich nicht, dass die Liebe Schaden erleiden wird, jedenfalls nicht mehr als in der ganzen bisherigen Menschheitsgeschichte. Der entscheidende Punkt wird vermutlich die Beziehungsfähigkeit darstellen, welche durch Unverbindlichkeit und Bequemlichkeit Schaden erleiden kann. Schaffen wir es auch in Zukunft den Aspekten genügend Bedeutung und auch Zeit einzuräumen, welche in der Begegnung der Menschen genau das entstehen lassen was bindet. Die alleinige Ausrichtung auf Funktionalität, die eigenen Interessen und die eigene Bereicherung stellen dabei große Hürden dar. Für eine Kultur der Liebe brauchen wir eine Welt, die aufeinander zugeht, die Solidarität, Wertschätzung und Akzeptanz zeigt. Liebe findet in einem Kontinuum statt, das sich unseren direkten Einflussmöglichkeiten entzieht und sie leuchtet in jedem von uns – wir müssen uns nur von ihr berühren lassen.
Vielen Dank für das Interview Herr Mischol!
Reto Mischol ist M Sc, Dipl. Psychotherapeut FSP, IFP. Besuchen Sie seine Website psyaspect.ch, wenn Sie mehr zu den Themen Partnerschaft, Familie und Sexualität erfahren wollen.